Kategorien
Analyse Besser Wissen! Big Data DataKrimi

Predictive Analytics? Ich sehe was, was Du nicht siehst!

Ich sehe was, was Du nicht siehst? Predictive Analytics!

Von Hans-Werner Klein (erschienen am 15.10.2015 in: „Das ganz große Ding – Predictive Analytics / Big Data“ Marktforschung.de – Das Dossier)

Predictive Analytics von einem Marktforscher durchleuchten lassen, das hat schon was. „Predictive“ waren die meisten Produkt-Marktforschungen schon immer, gerade deshalb wurden sie schließlich gemacht: Unternehmen erstellen schließlich Geschäftspläne auf Basis von datenbasierten Prognosen.

Soziologische Analysen hatten auch zumeist die Idee, dass man Verhalten von Gruppen analysieren und vielleicht auch vorhersagen kann. Mit den größten Wert auf „Predictive Analytics“ legen politische Parteien – und schauen sich ganz genau an, wie welche Themen in der Bevölkerung zu einem Erfolg der Partei am Wahltag führen können. Vielleicht kann ich diesen Beitrag für das marktforschung.dossier mal anders angehen. Vielleicht aus der Ecke Literatur, Film, Kunst oder  literarisch-philosophisch?

Was ist der neue Aspekt in diesem Thema?

„Das Ende des Zufalls“ proklamiert Rudi Klausnitzer in seinem 2013 erschienenen gleichnamigen Werk [1]. Untertitel: „Wie Big Data uns und unser Leben vorhersehbar macht“. Wenn Big Data und Vorhersehung genannt werden, darf die Marktforschung nicht fehlen. Oder doch? Wir werden umsatteln müssen in Data Scientists, Data Journalists, Data Designer, oder Datatainer. Erhalten aber damit auch den Status den „most sexy Job“ unseres Jahrzehnts auszuüben. Deal?

Predictive Analytics wird aus drei großen Quellen gespeist, die auch die Auktionen der Vermarktung von Daten in Zukunft bestimmen werden:

•Zum ersten die Ausweitung des Marktes für solche Prognosen. Wir sind, ohne es zu ahnen, umzingelt von uns betreffenden Prognosen: TV-Gewohnheiten, Sahne zum Kuchen, Unfallprognosen, Fahrverhalten, Kreditwürdigkeit – sogar kriminelle Aktivitäten mit Wochentag und Uhrzeit in unserem Wohnviertel können vorhergesagt werden. Das alles betrifft uns direkt. Da ist kein Flyer, kein Banner oder ein Mailing zwischengeschaltet.

•Zum zweiten die Ausweitung des Marktes für Werkzeuge, um diese Prognosen erstellen zu können. Als ältere quantitative Marktforscher sind Ihnen SAS und  SPSS ein Begriff. Geballtes Fachwissen auf den Feldern Statistik und Empirie, Kenntnisse des Marktes, der Kunden und Auftraggeber lassen diese Tools zu Zauberkästen der Experten werden. Aber braucht man die wirklich noch? Ausweitung des Marktes bedeutet zurzeit häufig, Werkzeuge zu bauen, die auf dem iPad Ergebnisse visualisieren können ohne Kenntnisse der Statistik. Automatisierung und propagierte Einfachheit durch Deprofessionalisierung gaukeln Verständnis und Erklären können auch komplexer Sachverhalte vor.

•Zum dritten die Ausweitung des Marktes für Daten, um die Werkzeuge zu füttern, um diese Prognosen sicherer und individueller zu machen. Dass Daten der Rohstoff des 21. Jahrhunderts sind, ist inzwischen Techno-Folklore von Kaffeekränzchen. Aber wo kommen diese Daten so plötzlich her? Quellen sind alle unsere Aktionen, die mit unseren „Credentials“ wie Kreditkarte, bestellte Waren, Newsletter, aufgerufene Seiten, gebuchte Urlaubsreisen, Einsatz von Bonus-Karten „bezahlt“ werden. Oder auch vom Kaffeekränzchen, wenn Smartphones genutzt werden, die eine umfangreiche Sensorik an Bord haben. Es ist schon verflixt: Wir können immer mehr wissen, dank Google & Co. Und bezahlen mit unseren Daten an Google & Co. Und als Marktforscher lassen wir  uns von diesen Databrokern die Butter vom Brot klauen.

Predictive Analytics im Film

Ein Moment des Innehaltens: Hatte ich nicht auch eine literarisch-philosophische Deutung versprochen? Oder ist es eine zu „steile These“, dass technologische und Marktentwicklungen auch von Literatur und Kunst getrieben werden? Das 1996er Klapphandy von Motorola war ein Klon des Communicators aus Star Trek, stimmt’s? Und hieß dann auch noch werbewirksam StarTAC.

Das Thema „Predictive Analytics“ als „Precrime-Detection“ wurde uns 2002  in dem Film „Minority Report“ näher gebracht. Der Film basiert auf einer Erzählung des Autors Philip Kindred Dick aus 1956. Der Plot: In Washington des Jahres 2054, werden drei Frauen mit der Fähigkeit der Hellseherei, sogenannte Precogs, benutzt, um Verbrechen vorherzusehen. Die noch-nicht-Kriminellen können vor dem Verbrechen von den Precops verhaftet werden. In einen Dämmerzustand versetzt, können sie weder morden noch betrügen.  Philosophisch-moralisch ein harter Brocken. Auch technologisch nicht ganz einfach umzusetzen, wenn man auf  Menschen statt Maschinen als Quellen der Predictive Analytics setzen würde.

Aber inzwischen sind wir noch nicht im Jahr 2054 aber weiter als 1956 oder 2002. Vielleicht  haben Sie die eine oder andere Meldung zum Thema „Precops“ gesehen. Auch die Bayrische Polizei setzt solche Analyse- und Prognoseprogramme ein. Und meldete am 23. Juni 2015 [2]: „In den Prognosegebieten hatten wir weniger Wohnungseinbrüche und mehr Täterfestnahmen“. Rückgänge der Einbrüche von 17,5 bis 42 Prozent [3] führen zu der Prognose des Bayrischen Innenministers: „Deshalb werden wir Precobs oder eine vergleichbare Prognosesoftware dauerhaft für die Bayerische Polizei anschaffe“. Diese Beispiele zeigen die ganz neuen Möglichkeiten von individualisierter Prognostik auf.

Verraten und verkauft [4]

Wie sieht es mit dem Informationsgold aus, das unsere Branche generieren sollte? Wir Marktforscher sind die ersten gewesen, die Daten „monetarisiert“ haben. Der nächste logische Schritt einer Kommerzialisierung von Daten wird allerdings von anderen gegangen: Kommerzielle Anbieter haben Angebote im Portfolio, die wie Zukunftsvisionen klingen, aber schon unter dem Begriff „Demand Side Platform“ (DSP) genutzt werden.

Die von Google & Co. mit Informationen versorgte Branche der Vermarkter von Anzeigenplätzen  hat „Bietermodule“ entwickelt: In Echtzeit wird einem dreistufigen Verfahren zuerst der „Wert“ eines Kunden auf Grund seiner Surfhistorie (Suchanfragen, besuchte Seiten, online Käufe) ermittelt. Diese Kundenwert-Profile  werden dann im zweiten Schritt auf einer Plattform in Echtzeit interessierten Unternehmen angeboten und schließlich an den Meistbietenden versteigert.

Das alles entspricht dem Datenschutz, der Bieter erwirbt keine Informationen, sondern nur den direkten temporären Zugang zu einem potenziellen Kunden. Der Surfer, also Nutzer einer Website, bekommt von dem im Hintergrund laufenden Prozess nichts mit. Was er bemerken könnte, wäre, dass er andere Angebote als seine Freundin oder der Nachbar als Nutzer der Website bekommt. Diese haben ein unterschiedliches Profil auf derselben Website, haben einen anderen kommerziellen Wert oder bevorzugen andere Produkte. Das Erstellen der Profile und Ermitteln des Wertes passiert sozusagen in Echtzeit, während sich die Seite aufbaut und der Nutzer auf dieser Website noch nicht mal seinen ersten Click gemacht hat. Dazu wird die Surf- und Suchhistorie ausgewertet.

Hier wird der bedeutende Unterschied zur Marktforschung deutlich: Das über den potenziellen Kunden generierte Wissen steht zwar sofort verwertbar zur Verfügung, aber verfällt wieder unmittelbar. Es werden keine Modelle über Zielgruppen generiert, die erst mit Expertenwissen in Kommunikation umgesetzt werden müssen.

Und das Verhalten des Kunden wird mit jedem Schritt ausgewertet: Eine Rückkopplungsschleife verfeinert die Parameter der Kundenorientierung. Jeder weitere Click, jede „Conversion“ (Kauf, Nutzung von Services) optimiert die Auswahl von Interessenten und passender Kampagne „on the fly“. Das treibt den Preis für den Kunden auf der Bieterplattform in die Höhe. Steht ein Interessent unmittelbar vor einem Online-Kauf, ist der Preis am höchsten. Hier könnten immer noch (sehr teuer ersteigerte) Angebote des Wettbewerbs ihn weg locken.

Nebenbei – das ist nicht nur eine Bedrohung der Marktforschung, sondern auch der Werbewirtschaft. In einem Blogartikel beschreibt Dominik Grollmann 2014 dies mit der provokanten Überschrift „Kauf, Du Sau“ [5].

Mein Fazit

Während man die Berichte und Artikel über Precops und andere Ergebnisse prädiktiver Analyse als schlichtes Infotainment abtun könnte, ist unsere Profession bedroht. Denn theorielose Automaten generieren Wissen, das ad hoc genutzt und sogleich wieder vergessen wird. Diese Automaten werden verwendet, um zum Beispiel Absatz im Web zu optimieren. Prozesse im Web bestimmen auch zunehmend unser Verhalten offline – und so haben diese Automaten Einfluss in unsere Welt aus Stein und Mörtel.

Marktforschung dient oft auch der Lösung strategischer Fragestellungen: Predictive Analytics. Diese benötigen eine angemessene Wahl von Methoden und Menschen. Genauso fundamental und nicht ersetzbar sind auf das Erkenntnisinteresse des Auftraggebers kritisch zugeschnittene Analysen und deren Interpretation und Bewertungen. Bei allen Möglichkeiten einer Prozessoptimierung in der Datengewinnung – der wichtigste Benefit der Marktforschung macht die Beratung aus, die Fähigkeit, einen Auftraggeber im Dialog nahtlos bei der Gewinnung und Nutzung der Ergebnisse zu begleiten.

Diese Beratung sollte extern durchgeführt werden – in Instituten, die nicht als Anhängsel von Marketingmaschinen wie Google & Co. funktionieren. So entgeht man der Gefahr, von Google & Co. als reinen Datenlieferanten und Vertriebsautomaten überrollt zu werden und sichert sich die Chance, diese Daten im Interesse des Auftraggebers angemessen zu nutzen. Und eröffnet sowohl den Marktforschern wie den Instituten eine arbeitsreiche und erfolgversprechende Zukunft.

Ergänzungen

WATSON übernehmen Sie (IBM Watson Analytics)?
IBM hat mit WATSON schon seit längerem ein mächtiges Analysetool im Angebot. In dem gestern erschienenen Artikel auf Computerbild wird „Watson Analytics“ vorgestellt, eine Gruppe von Tools die „Predictive Analytics“ mit Cognitive Computing (aka KI oder AI) ermöglichen. Die Use Cases im Artikel ergänzen meinen Beitrag: Wie wird das Wetter? Diese Frage beantwortet dann auch die Frage: Wie wird das Geschäft?  Quelle: http://www.computerwoche.de/a/watson-uebernehmen-sie-heisst-es-bei-ibm,3217241

OK, „Watson übernehmen Sie!“ ist wirklich die Lösung? Technologie löst Probleme? In meinem Artikel aus Sicht eines „DataBeratas“ und Marktforschers sehe ich das etwas anders. Dazu passt auch eine Studie von Alexander Linden (Gartner), die gestern 14.10.2015 veröffentlicht wurde: „… Most pitfalls will not result in an obvious technical or analytic failure. Rather they will result in a failure to deliver business value.“
Das ist auch unsere Erfahrung in „Large or Complex Data“ Projekten. Big Data Analytics schafft es über immer besser werdende Tools Datenschätze zu heben. Aber was nützt es, wenn Unternehmen vor einer Suppe sitzen, und Watson nichts als Gabeln ausgräbt? Auch hier hilft wohlmöglich das Know-How der Marktforscher-Zunft.

Quelle: http://www.information-management.com/news/big-data-analytics/big-data-analytics-raises-ethical-risks-10027583-1.html

Schluß mit „sexy“?

Das MIT meldet am 16.10.2015 große Erfolge mit seiner „Data Science Machine“: Gerade noch wurde der Data Scientist zum „sexiest Job“ in diesem Jahrzehnt gekürt (siehe obenstehenden Artikel) – erfolgt jetzt die Demütigung?

MIT: „System that replaces human intuition with algorithms outperforms 615 of 906 human teams.“ „http://news.mit.edu/2015/automating-big-data-analysis-1016“

Lesenswerter Artikel – zum ersten Mal, dass ich versucht bin, zu solchen Maschinen „Hallo Kollege“ zu sagen. Und mich sofort an „Die Physiker“ von Dürrenmatt zu erinnern. Wenn Maschinen richtig gut sind und uns „outperformen“, kann das zum Wohle aller oder vieler oder weniger eingesetzt werden, solche Maschinen können „Erntehelfer“ oder Waffen sein.

Fußnoten

[1] Rudi Klausnitzer „Das Ende des Zufalls: Wie Big Data uns und unser Leben vorhersagbar macht“, Ecowin März 2015

[2] Quelle abgerufen 1.10.15, 12:49 www.stmi.bayern.de/med/pressemitteilungen/pressearchiv/2015/204/index.php

[3] Anmerkung HWK: Unklare Datenlage – u.a. keine Angaben zum Vergleichszeitraum in den Dokumenten zu finden

[4] Dieser Abschnitt ist ein gekürzter und überarbeiteter Text aus „Zukunft der Marktforschung“ Springer Gabler 2015

[5] www.ibusiness.de/marketing/db/499304grollmann.html (abgerufen am 24.08.2014, Hinweis: Zugriff nur nach Anmeldung)

Schreibe einen Kommentar