Blitzartig wurde es hell. Lara bemerkte, dass ihr Verfolger seinen linken Schuh verloren haben musste. Der rechte Riesenfuss steckte in einem perlmuttfarbenen Pumps.
Sicherlich in dieser Größe schwer zu finden. Der Donner und die Dunkelheit tarnten Laras schnelle Schritte über das Kopfsteinpflaster. Blitz. Lara drückte sich an den Eingang des Theaterpuppenmuseums. Gelangweilt sahen ihr die Puppen dabei zu. Eher zu neutral. Finde ich nicht richtig, denkt Lara.
Wenn ich eine Puppe wäre, dann lieber eine Marionette als eine Stabpuppe oder eine Handpuppe. Blitz. Der Verfolger fünf Schritte entfernt. Augsburger Puppenkiste meets Monty Python, denkt Lara. Da steht ein Mann, bestimmt zwei Meter groß unter einem Drachen – einem Urmel aus Eisen, das übermütig vor Freude quietschend vier Meter über der Strasse hin und her wackelt im Wind. Donner abwarten und weitere Flucht? Blitz. Donner. Auch das Gewitter kommt näher. Blitz.
War so ein schöner Tag an der Wakenitz. Freibad Falkenwiese. Eigentlich wollte Lars mit kommen. War nur kurz erschienen, hatte ihr ein wasserdichtes Handy aufs Badetuch gelegt und einen Zettel. Sie war noch im Wasser, als er wieder winkend verschwand. Seit er den Job als Programmierer angenommen hatte, neigte er zu solchen Eskapaden. Sie mochte nicht, wenn er zu lange nichts von sich hören lies. Und zu lange bedeutete maximal vier Stunden. Aber interessant war es, mit ihm zu leben.
„Lass es eingeschaltet, aber geh nicht ran! Lass es Dir nicht abschwatzen! Lass es Dir nicht klauen! Bringe es auf keinen Fall nach Hause! Ich liebe Dich. Lars“.
Auf keinen Fall klauen lassen, aber einfach so aufs Badetuch legen. Nicht achtsam, mein Freund! Aber eigentlich ist Falkenwiese Familie. Da klaut man nicht. Donner.
Lara steht noch immer wie angetackert am selben Platz. Tastet in die Handtasche. Findet die gummierte Oberfläche des Handys. Schmunzelt. Ich habe was gefunden. In meiner Bermuda! Bermuda – Lars hatte die Handtasche so genannt. Weil niemand was darin wieder fand.
Blöder, lieber Kerl. Er hatte ihr den Vorschlag gemacht, sich mal die Tasche klauen zu lassen. Eine Falle für Taschendiebe. Die wühlen solange darin rum, bis ihre Hände mit alten Schokoriegeln, feuchten Kaugummi, hart gewordenen Tempotüchern und einzelnen Ohrsteckern überzogen, verklebt, aufgeratscht und perforiert worden sind. Taschendiebe brauchen ihre Hände als Werkzeuge, um ihre Kunst leben zu können. Sagte Lars. Sie werden weinend am Strassenrand sitzen. Die Karriere zerstört von Laras Bermuda. Monty Python, sagte Lara.
Blitz. Der Pumps war weg. Kein Donner, sondern ein Klack – Pause, Klack – Pause, Klack – Pause, Klack – Pause immer schneller werdend und leiser. Donner. Auch das Gewitter verschwindet. Quietschend vergnügt schaukelt Urmel weiter an der Kette hoch über der Strasse. Langsam beginnt es zu tröpfeln. Urmel wird nass. Lara löst sich aus der Nische des Museums. Das fremde Telephon lärmt in der Bermudatasche. Sie hatte sich auf das Spiel eingelassen und war mit den nassen Klamotten und dem wasserdichten Handy in der Bermuda durch die Stadt gelaufen, bis es plötzlich dunkel wurde. Whatsäppte an Lars: Alles noch an Bord – jetzt in den Hafen einlaufen? Nein!!!! (ängstliches Gesicht) die Antwort. Und: Ritter der Kokosnuss!!!
Sie wusste was er meinte. Im mittelalterlichen Teil ihrer beider Heimatstadt war der Treffpunkt. Durchs Holstentor, Strasse hoch, rechts rein. Da wo sie jetzt war. Am Tor hatte das Handy das erste mal geklingelt, gelärmt und Für Elise gepiept. Da stand der Kerl neben ihr. Hallo, sagte er. Sie haben etwas, was nicht ihnen gehört. Aber mir. Sie nickte ihm freundlich zu und ging zu einem Polizisten, der gelangweilt eine Demo für den Frieden verfolgte. Oder diese beschützte. Oder andere vor dem Frieden beschützen musste. Lara sprach leise: Hallo, können Sie mir sagen worum es hier geht? Leise antwortete der Polizist: Eine Friedensdemonstration. Früher waren hier mal mehr Demonstranten. Tun mir leid die Leute jetzt. Alle denken, wir haben Frieden. Niemand kommt mehr her. Niemand kann sie hören. Sehen sie – jetzt ist schon wieder das Mikrophon ausgefallen. Was meinen Sie, ob ich denen mein Polizeimegaphon geben sollte? Lara nickte und sah sich immer wieder um. Der Mann war verschwunden. .. zartes Pflänzchen brüllte die Lautsprecheranlage plötzlich und quietschte, als sie sich an den eigenen Worten verschluckte, die das Tor zurückwarf.
Wieder friedliche Stille. Der Polizist schüttelte den Kopf. Sehen sie, die wenigen Leute gehen auch noch, weil sie nichts verstehen. Danke antwortete Lara, guten Dienst noch.
Hoch, über die Brücke, am Ufer entlang, Schiffsanlegestelle. Kein Lars. Für Elise pfiff jemand neben ihr. Ihr Sprung die Treppe hoch, über die Strasse, quietschende Reifen, weiter weiter weiter weiter keine Luft mehr weiter weiter weiter weiter.
Dunkelheit. Plötzlich Weltuntergang. Die Sonne ist weg. Geklaut. Von dem Typen. Bestimmt. Gehört mir, wird er wem auch immer, gesagt haben und hat sie in eine feuerfeste Tasche gepackt. Und dann nur noch kurz rein geguckt in die Tasche, damit es hell wird und er Lara findet. Mist Telephon! Für Elise.
Sie ist nicht Elise. Gibt es ein Lied für Lara? Vorsichtig geht Lara Richtung St. Petri. Wieder steht er schnell gewachsen wie ein Bambus neben ihr. Das Tröpfeln wird zum Wasserfall. Das Shitwetter zum Unwetter. Und ihr Leben läuft nicht wie in einem Film im Kopf noch mal ab. Ein gutes Zeichen? Sie wird überleben, beschliesst sie. Hallo, Sie wissen schon … murmelt er. Lara nickt und gibt ihm die Handtasche. Wo ist ihr Schuh? fragt sie. Es gab nur einen, sagt er. Der Laden hatte nur einen draussen. Immer haben sie nur einen Rechten draussen. Er lacht. Immer die Rechten draussen! Werden Sie mich – töten? fragt Lara. Der Wind wird plötzlich stärker.
Er hat sich umgedreht, bereits entfernt und wühlt in ihrer Tasche. Das Handy piepst Beethoven durch den Sturzbach. Der Mann fingert das Handy aus der Tasche und wirft Bermuda im hohen Bogen in Laras Richtung. Die Windböe trägt Bermuda und sie fliegt und fliegt und Lara fängt sie mit einem Triumpfschrei auf. Die Windböe befreit Urmel von den Ketten. Und Urmel fliegt und fliegt und Urmel stürzt sich auf Elise. Kommt ein Urmel geflogen, setzt sich nieder auf seinen Kopf … Der Mann rührt sich nicht mehr. Sein Kopf blutet, oder ist es der Regen, der da fliesst?
Der Vorhang zerreisst. Die Sonne ist der Tasche entflohen. Es ist wieder hell. Nur der Regen will weiter waschen. Er vermischt sich mit dem Blut aus der Kopfwunde. Mäandert dann leicht rot in den Fugen des Kopfsteinpflasters den Berg hinab. Nimmt sich Zeit dabei. Will auch was sehen von der Stadt. Hat schliesslich einen langen Weg hinter sich. Lara sieht dem Rinnsal nach.
Lara wird schlecht. Lara bekommt Knie aus feuchtem Kaugummi. Laras Vorhang im Kopf fällt das erste Mal. Lara! Lara!! Laaaara!!!
Lars kniet neben ihr. Hält sie, weint mir ihr. Urmel sagt sie. Urmel hat den Mann getötet. Urmel quietschte und dann flog Urmel und hat den Mann getötet. Weil ich es gedacht habe, Lars, ich habe gedacht: Was will er von mir? Könnte ich ihm doch in den Kopf gucken! Urmel hat den Kopf aufgemacht – aber da war nur Blut, Lars.
Wir bringen Sie erst einmal ins Krankenhaus, wir kümmern uns um alles, sagt der Polizist. Der Frieden und Megaphon Polizist vom Tor. Dann erzählen sie später mal in Ruhe, was sie von diesem, diesem – Unglück mitbekommen haben.
Für Elise kommentiert das Handy aus Urmels Bauch. Nicht berühren – sprechen Lars und der Polizist im Chor. Spurensicherung und Nein spricht jeder seinen eigenen Text im Chor.
Die Strasse war gerade breit genug für den Krankenwagen, der kommt verkehrt in die Einbahnstrasse rein. Sein Blaulicht lässt das blutige Rinnsal die Farbe wechseln. Blau Rot Blau Rot Blau Rot. Den richtigen Weg blockieren still Urmel und der Mann.
Laras Gedanken bevor der Vorhang erneut fällt: Kennen sich Urmel und der Mann? Hatte Urmel noch eine Rechnung offen? Sie zeigt auf den Mann und sagt: Urmel wars. Erneuter Vorhang.
Sie legte sich in die Arme von Lars. Elise und Urmel retten mich. Und der Polizist. Und Lars. Wie im Puppentheater geht alles gut aus. Für Lara.
Nur Elise bleibt ungehört.